PRAXISHILFE - Schriften der Jugendpastoral - Nummer 3 - page 29

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Jugendpastoral von den
Armen her denken
Hintergründe, Projekte und Methoden
schriften der
jugendpastoral
im erzbistum köln
praxishilfe Nr. 3
als in diesem Moment reinzugehen und die Blicke auszuhalten. An diesem Tag werde ich
zum gelegentlichen Schulschwänzer, wenn ich die Schule einfach nicht mehr aushalte. Ich
hätte aber damals nie andere um Hilfe gebeten, weil mir gar nicht klar war, wofür genau ich
um Hilfe hätte fragen können. In unserer Gesellschaft gilt zuerst das Mantra, ›Hilf dir selbst‹.
Hilfe annehmen, das wird schnell als Schwäche wahrgenommen, wenn ich mich nicht in
der Lage fühle, etwas Gleichwertiges zurückgeben zu können. Realität ist jedoch, dass
viele erfolgreiche Menschen mit großer Selbstverständlichkeit auf ein Netzwerk von
Unterstützern, Mentoren und Förderern zurückgreifen, ohne sich abhängig zu fühlen.
AUFFORDERUNG
Kann man das Spannungsfeld zwischen Hilfe annehmen und Helfen und die immanente
Machtstruktur, die darin liegt, auflösen? Ein allgemein gültiges Rezept gibt es nicht. Das
selbstkritische Hinterfragen der eigenen Position, Herkunft und Motivation kann den Blick
aber immer wieder neu schärfen. Sozialarbeiter und andere professionelle Helfer kommen
heute nicht mehr nur aus Akademikerfamilien. Sie kommen auch aus Arbeiterfamilien,
haben selbst Flucht- oder Migrationshintergrund oder sind Quereinsteiger aus ganz anderen
Berufen. Ihre eigenen Erfahrungen können sehr wertvoll sein, wenn sie im beruflichen Alltag
Raum bekommen. Auch andere Themen kennen viele der professionellen Helfer aus eigener
Erfahrung: zum Beispiel finanzielle Probleme, unsichere Arbeitsverhältnisse und befristete
Teilzeit- und Projektverträge, vielleicht haben sie ein schwaches Selbstbewusstsein oder sie
leben in schwierigen Familienverhältnissen, sind Alleinerziehende, haben Pflegeverpflichtun-
gen oder ihre Kinder nehmen trotz aller Ermahnungen lieber Kleingeld mit in die Pause, um
morgens länger schlafen zu können, anstatt zu frühstücken.
Deswegen möchte ich die Frage des Gebens und Nehmens einmal aus einer anderen
Perspektive formulieren. Haben Ihnen, den Helfenden, ›die Armen‹, mit denen Sie arbeiten,
zu diesen Themen vielleicht etwas zurückzugeben? Möglicherweise sind ›die Armen‹ die
Experten, weil sie diese Probleme schon als Dauerthemen mit sich tragen. Gibt es eine
Ebene, auf der die Helfenden sich ›den Armen‹ gleichberechtigt begegnen können? Immer
mal wieder? Geben Sie ›den Armen‹ die Gelegenheit, Ihnen etwas zurückzugeben? Denn
das sind die Momente, in denen die Ungleichheit tatsächlich laufgehoben wird.
Als Werkzeug zur kritischen Selbstreflexion möchte ich Ihnen folgende Fragen anbieten:
ÒÒ
Adressieren Sie Ihre jeweilige Zielgruppe insgeheim als ›die Armen?‹
ÒÒ
Können Sie das verändern? Welche anderen Bezeichnungen finden Sie für die
Menschen in Ihren Zielgruppen?
ÒÒ
Erkennen Sie die Gelegenheiten, die den Anderen zum Zurückgeben verhelfen?
Es wünscht Ihnen viel Kraft, unermüdliche Geduld und unbeugsamen Humor
für Ihre tägliche Arbeit
Undine Zimmer
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